Guten Morgen aus dem Cockpit
Wir sind vor 9 Stunden in Zürich gestartet und sind über dem Himalaya. Unsere Bodyclock meldet schon lange Schlafenszeit. Es ist mitten in der Nacht und stockfinster. Unter uns die höchste Gebirgskette weltweit. Bumm – Triebwerksausfall – Schockstarre – Stress.
Was nun?
Um einen klaren Kopf zu behalten atmen wir einmal durch. Nur mit klarem Kopf ist es uns möglich, in eine geordnete Analyse des Problems und darauffolgend in das richtige Handlungsmuster einsteigen zu können. Diese Handlungsmuster beinhalten Routinen und Drills, die jede PilotIn zu jeder Tages- und Nachtzeit abrufen kann. Was können Sie aus der Pilotenwelt im Umgang mit Stress mitnehmen und lernen?
Wir sind wieder in dem Moment des Triebwerksausfalls. Unsere erste Reaktion ist der Ausruf:
FLY Fliegen, NAV Navigieren, COM Kommunizieren
Dieser Ausruf (wir sprechen das laut aus!) gibt uns eine Handlungsstruktur vor und hilft uns bei der Fehleranalyse. FLY: Fliegt das Flugzeug? Das beinhaltet eine kurze Analyse, welches Triebwerk ist ausgefallen, muss ich mehr Schub geben? NAV: Dahin, wo ich es hinhaben möchte? COM: Ich sage meiner KollegIn und den FluglotsInnen am Boden, was mein Plan ist. Mit dieser Struktur verschaffe ich mir einen geordneten Zugang zu meinen Ressourcen und Routinen. Für zeitkritische Situationen im Cockpit gibt es auswendig gelernte Abläufe, so genannte memory items. Für Fluglagen gibt es Drills, das sind exakt vorgegebene Handlungsanweisungen mit denen ich in dieser Situation, z.B. einem Durchstartmanöver (go-around) reagieren muss. In einer akuten Stresssituation helfen einem diese strikten Handlungsvorgaben das Flugzeug wieder unter Kontrolle zu bringen und sich Zeit zu verschaffen.
Stecken Sie in Ihrem persönlichen ‚Triebwerksausfall‘, hilft ein Ausruf, dass Sie merken, dass Sie in einer Schockstarre (freezing-like behavior), dem sogenannten „startle effect“ feststecken. Sie können laut fluchen oder sich etwas zurechtlegen. Wenn Sie z.B. vor lauter Arbeit auf dem Schreibtisch im Stress zu versinken drohen, sagen Sie sich STOP! Damit unterbrechen Sie den Zustand eingeschränkter Gehirn- und Körperaktivität. Sie lösen die Starre und sind wieder in der Lage zu denken und zu handeln. Rufen Sie dann vorher eingeübte Routinen wie priorisieren, delegieren, terminieren ab.Selbstreflexion. Weiß ich eigentlich, was ich für ein Stresstyp bin? Neige ich dazu, mich zurück zu ziehen, oder fange ich an, energisch Anweisungen zu geben? Eine große Hilfe ist: einmal durchatmen. Diese Sekunden sind sehr gut investiert, um zu sich selber zu finden und die erste Reaktion zu überdenken. In der Fliegerei müssen wir nach jedem Flug einschätzen wie dieser gelaufen ist. Dabei steht im Vordergrund, dass wir aus allem etwas lernen können, besonders aus den eigenen Fehlern.
Wie reflektiere ich, was ich für ein Stresstyp bin? Z.B. in einer Alltagssituation: Sie sitzen in einem Auto und der andere Verkehrsteilnehmer übersieht rechts vor links. Konnte ich reagieren und ausweichen? Nach solchen Ereignissen können Sie sich fragen: Wie habe ich reagiert? War mein Plan erfolgreich? Was würde ich das nächste Mal anders machen? Wenn wir beim Autofahren bleiben, dann gibt es z.B. Menschen die in dieser Situation anfangen laut zu hupen und den anderen Verkehrsteilnehmer beschimpfen. Wenn Sie zu diesem Stresstyp gehören, dann wäre eine Möglichkeit dem Stress mit mehr Ausgleich in der Freizeit und bei der Arbeit zu begegnen. Eine gute Hilfe bei der Selbstreflexion können auch online-Tests sein oder man kann mithilfe eines Coachings sein eigenes Stressverhalten erkennen und Lösungswege erarbeiten.Action plan library. Oder anders: Vorausdenken. In Zeiten, in denen wir PilotInnen beim Fliegen wenig Arbeitsbelastung haben, machen wir Pläne für verschiedene Szenarien. Was sind meine Ausweichflugplätze, wie ist dort das Wetter? Wenn ich einen Druckabfall in der Kabine habe, wo kann ich hinfliegen, um absinken zu können? Was ist an dem heutigen Flug besonders, auf das ich mich potenziell gefasst machen kann? Je mehr „threads“ ich mir bewusst mache, desto weniger überraschen sie mich, wenn sie eintreten sollten. Dabei ist wichtig, dass ich das Antizipieren trainiere. Und dann nicht stur meinen gefassten Plan abarbeite, sondern dabei auch offen bleibe für Veränderungen in der Situation und ggf. einen neuen Plan aufstellen kann. Ein viel zitierter Spruch in der Fliegerwelt ist: „expect the unexpected“.
Stellen Sie sich vor, Sie müssen zum ersten Mal einen eigenen Workshop präsentieren. Wenn Sie sich bei der Vorbereitung in Ihre TeilnehmerInnen versetzen, dann haben Sie wahrscheinlich Fragen. Was könnten diese Fragen sein und was könnten Sie antworten um zu Ihrer Präsentation zurück zu kommen? Oder Sie haben einen Querulanten dabei. Wie können sie dem begegnen? Wieviel Raum möchte ich für Diskussionen lassen oder wie leite ich zum eigentlichen Thema zurück? Je mehr dieser Szenarien Sie im Voraus antizipieren, desto mehr Flexibilität haben Sie gewonnen.
Stressbewältigung und Stresserleben kann sich verändern, je mehr Übung Sie darin bekommen. In der Folge nehmen Sie gewisse Situationen auf einmal nicht mehr als stressig wahr, da sie diese neu bewerten oder neue, funktionierende Strategien anwenden konnten. Der Umgang mit Stress auf der Sachebene ist anders als auf der emotionalen Ebene. Dabei können sich auch ungelöste Stresssituationen aus der Sachebene auf die emotionale verschieben. Aber auch hier unterstützen die hier beschriebenen Strategien die Emotionsregulation. Wenn ich meine Gefühle durch die Selbstreflexion wahrgenommen und identifiziert habe, dann kann ich auch wieder den Kopf einschalten und in klare Handlungsmuster zurückfinden. Wenn dann auf dem Rückflug die Hydraulikleitungen ein Leck haben, dann kann ich auf die positive Erfahrung zurückgreifen, dass ich schon einmal eine Stresssituation erfolgreich bewältigt habe.